Donnerstag, 4. April 2019

Gefangen in der eigenen Legende


Lebende Legenden gibt es tatsächlich – noch und immer wieder. Auch wenn deren Anzahl überschaubar ist, so werden das mit fortschreitendem Alter deutlich mehr als dies früher der Fall war. Das ist sicher ein großes Merkmal weltweiter Vernetzung und der Massenmedien. Und eben dass Musik von vor 30, 40 oder gar 50 Jahren nicht mehr als altbacken definiert wird und auch heute noch neues Publikum findet. Die “Rolling Stones“ füllen Stadien, trotz dessen dass die Bandmitglieder über 75 sind. Ja, richtig. Stadien und über 75. Wie schon in Blogartikel über “Früher waren wir alt“ wäre das vormals ein Anachronismus sondergleichen gewesen.
“Kiss“ brechen gerade zu ihrer dreijährigen Abschiedtour auf, komplett in voller Montur mit Plateauschuhen und kompletten Kiss-Outfit. Gene Simmons wird 72 sein, wenn sie die Tour beenden. Auch das sind lebende Legenden. Die Konzerte laufen gut, die Preise sind hoch, kaum bezahlbar teilweise, wenn man kein Hardcore-Fan ist. Wenn Elton John auf Tour geht, sind die Hallen ausverkauft und mit 290,- Euro Eintrittspreis hat man geradezu ein Schnäppchen gemacht, wiewohl man die Bühne für das Geld eher erahnen als sehen kann und auf die Videoprojektion angewiesen ist.

Und dann kommt das Konzert. Und die Bands liefern. Es sind altgediente Streiter, die wissen, was das Publikum will. Paul McCartney spielt zum abermillionsten Mal “Hey Jude“ auf dem Klavier, die Stones “Satisfaction“ und “Metallica“ (okay, nicht die gleiche Legendenliga, aber die Jungs sind ja erst Mitte 50) liefern selbstverständlich auch 2019 “Enter Sandman“ ab. Das ist es auch, was das Publikum letztendlich hören will. Die “Klassiker“, die Hits, die bekannten Songs, die man mit einer speziellen Ära einer Band oder eines Künstlers verbindet. Ja, es gibt eventuell ein neues Album, aber bitte spielt doch einfach “Honky Tonk Women“ und alle sind glücklich. Elton John lässt sich nicht bitten und haut “Rocket Man“ und “Candle in the Wind“ auf seiner aktuellen Tour raus. Und auch jede Setlist der genannten Bands und ähnlicher Größen liest sich einfach wie das nie erschienene beste “Best of“ der Künstler. Einfach gnadenlos 20 Hits hintereinander geklatscht und gut ist und vor allem gehen alle zufrieden nach Hause.
Klar, es gibt auch die Fans, die einen Titel aus dem kaum gespielten “The Elder“-Album von “Kiss“ abfeiern würden, doch die Freude hielte sich in Grenzen beim Rest, der nicht mal die Titel kennt. Wer für die Massen spielt, der muss der Masse auch das bieten, was sie begehrt. Schon Goethe schrieb dereinst in Faust: “Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen“ und hat damit vor über 230 Jahren die Psychologie dieser Masse erkannt, indem er dort im Vorspiel im Theater den Direktor des Theaters genau das vom Poeten fordern ließ; nämlich dieser zu geben, was sie braucht.
Und so ist es auch heute noch.

Gut, dass Bands solche Hitfeuerwerke abschießen können ist eine starke Leistung. Kaum Füller oder das Warten darauf, dass endlich ER gespielt wird – der große Überhit, den alle herbeisehnen, wie es bei anderen Gruppen der Fall sein mag. Dennoch müssen sie liefern. Die Fans wollen, was sie wollen und allzu große Abweichungen lässt man selbst kaum zu. Man reglementiert sich also auch. Was kommt gut an, was nicht – das weiß man nach Jahrzehnten auf Tour, ist aber auch in diesem Kreislauf gefangen. Man spielt, was gefällt, nicht das was man möchte, das was man nicht Millionen Mal dargeboten hat, das was vielleicht anspruchsvoller, interessanter wäre.

Aber nicht nur hier ist man dem unterworfen, auch bei neuen Veröffentlichungen. “Kiss“ hat innerhalb von 20 Jahren genau zwei Alben rausgebracht – das letzte vor sieben Jahren. Die “Stones“ im selben Zeitraum ebenfalls die gleiche Menge – das neuste Album von 2015 besteht zudem nur aus Coverversionen alter Bluestitel anderer Künstler. Elton John feuerte hingegen ganze sieben Alben in der gleichen Zeit raus. Nur hat man davon kaum was mitbekommen letztlich.
“Mehr vom Gleichen“ ist die Attitüde von “Kiss“ mittlerweile, die einfach straight hard rock ohne Schnörkel auf den letzten Studioalben geboten haben. “Lieber nichts neues, als was schlechtes“, scheint die der “Stones“ zu sein, die darum dann auf Coversongs zurück greifen, um nochmal abzusahnen. Denn die Alben verkaufen sich durchaus, das ist ja der Legendenbonus, doch dann wirklich hören mag man das nicht immer wollen, wenn die Zeit dafür eigentlich abgelaufen ist. Man konserviert die große Zeit der Band, die 60er und 70er bei den Stones, die 70er und 80er bei “Kiss“. Damit verbinden die Leute etwas, das ist der Kern der Legende. Die unmaskierten Zeiten von “Kiss“ sind vergessen, auch die dieser Ära Alben eher unbeachtet. Selbst das in den 90ern erfolgreiche “Anybody Seen My Baby“ der “Stones“ findet sich nicht mal auf aktuellen Setlisten der Band. “Paint It Black“ und “Gimme Shelter“ sind halt doch einfach größer irgendwie.

Es kann eben auch hemmend sein, diesen Status zu besitzen. Die Albenproduktion dauert länger, die eigenen Ansprüche sind höher, man ist weniger locker im Umgang damit, die Legende spielt mit in die eigene künstlerische Tätigkeit hinein. Ein neuer Song, der stilistisch nicht wie die alten ist? Ein Titel, dessen Potential nur der eines Füllers ist, wenn man ihn mit den alten vergleicht? Fans, die althergebrachtes wollen und keine neuen Wege? Da blockt man sich leicht selbst aus, stagniert ohne neue Veröffentlichung oder muss sich geradezu herkulisch dazu aufraffen, um etwas anzugehen. Und wenn dann was erscheint, dann ist es eventuell sogar durchaus erfolgreich aufgrund des Legendenbonus, aber richtig hören wollen die Leute anderes.
Die Konservierung der Legendenzeit ist es, was man sucht. Während Paul McCartneys neustes Album auch die Nummer eins der Charts erreichte, stürzten sich die Fans 1995/96 wie bekloppt auf die dreiteilige “Beatles-Anthology“, die vor allem Resteverwertung alter Aufnahmen und Demos waren und eigentlich nur für Hardcore-Fans goutierbar sind. Trotz der harten Kost verkaufte sich das damals mehr als dreimal so viel.  Und als “Pink Floyd“ 2014 nach 21 Jahren mit “The Endless River“ ein neues Album veröffentlichten, so waren das die Reste der Aufnahmen für das 1993 entstandene “The Division Bell“ und keine eigentlich neuen Songs. Auch dieses Kuriosum mag ein Teil dessen sein, dass man als lebende Legende erfährt, nämlich, dass die Legende irgendwann größer geworden ist als man selbst.

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