Freitag, 9. Oktober 2020

“Ich werde das doch mal sagen dürfen…“ – wie uns Social Media verdummt

Früher – ja da war alles anders. Da musste man noch richtige Hürden nehmen. Man musste irgend jemanden dazu bringen, das was man als intelligent gedachten geistigen Erguss fabriziert hat, auch in die Welt hinaus zu posaunen. Leider waren weder die meisten Verleger noch Redaktionen, Zeitungen, Radiosender oder TV-Stationen bereit auch jede noch so minderbemittelte Mitteilung jedes mitteilungssüchtigen Jemanden unbedingt und bedingungslos zu veröffentlichen. Meist wanderte das dann in die Tonne und die Meinung an einen alkoholgetränkten Stammtisch. Hier konnte man seine Bestätigung einheimsen, hier bekam man für jeden noch so hirnrissigen Blödsinn von zumindest irgend jemanden Recht und hier verschwand auch alles im Dunkel des Abends und im Vergessen der Expertise aller Beteiligten, aller Supertrainer, Fast-Doktoren und Garagenpsychologen.

Doch dann kam sie – die Sternstunde für alle, die sonst stumm bleiben mussten, weil ihr “Wissen“ derart fundiert war, dass das Erklären einer Toilettenspülung zur Sisyphusaufgabe mutieren konnte. Das Zeitalter der unkontrollierten Botschaften, der Minimalstmeldungen brach an. Und – um diesen Zeitsprung kurz zu machen – irgendwann war dann jeder fähig, der auf einen AN-Schalter drücken konnte, diese Botschaften (wenn auch weder grammatikalisch noch inhaltlich fehlerfrei) auf den Rest der Menschheit loslassen zu können. Dieser erklärte man nun die Welt und packte die ganz große Tüte der Schwurbelkiste aus. Jetzt war nämlich einfach alles möglich und jeder Schulhofclown, der wieder mal von seinen phantastierten Abenteuern prahlte mutierte zum quasi-Superhelden in seinen Botschaften, jeder kannte irgend jemanden, der irgend etwas gehört habe, was unbedingt erzählt werden muss, schließlich kommt es ja (Achtung: Ironie!) aus “erster Quelle“ und natürlich wurde jede handgemachte und mit Word 95 hingerotzte Bildtafel mit erfundenem Text und geklautem Bild sofort geteilt und als Wissen hinaus trompetet.

Da war sie – die Brachialgewalt des Dunning Kruger Effekts – die Lawine der Doofheit, die unfiltriert über die Menschheit herein brach. Und genau dieses Unfiltrierte generierte “Wahrheiten“, die nicht nur so alt wie Methusalem waren, sondern deren Bart dessen um unzählige Meter übertraf. Jede noch so abgelutschte Verschwörungstheorie wurde als “neue Insiderinformation“, als die Weisheit des Himmels, die Realisation der Wahrheit spannungsvoll gelesen, gekaut und geschluckt. Wer jemals in seinem Leben Umberto Ecos Meisterwerk “Das Focaultsche Pendel“ von 1988 (!!!) gelesen hat, der kann über den ganzen Mumpitz nur lächeln und sitzt gähnend in der Ecke, nur um bald darauf aufzuschrecken, wenn der nächste Effekt eintritt – die Gewöhnung.

Selbst die letzten Hinterhofschwurbeleien wie die “Protokolle der Weisen von Zion“ blühen wieder auf und werden durch sinnfreie Repetation zur Halbwahrheit. Denn wenn “alle“ was davon wiederholen, dann muss ja ein Teil wahr sein. Dieser Trick, also die Wiederholung von etwas, damit es ins Bewusstsein dringt, nutzt schon die Werbung, wie sicher alle Kaffe- und Kuchen-Psychologen bestätigen werden. Es mag nicht das beste Produkt sein, aber es kommt einem sofort in den Sinn. Ungewollt und auch eigentlich ungewertet. Aber es belegt den Speicherplatz. Fast-Food-Restaurant? Ketchup? Taschentücher? Kleber? Egal ob man es nutzt, man kennt die Marken. Und so ist es hier auch. Egal ob man es erstmal glaubt, man weiss darüber. Und damit übernimmt dieses unbewusste "Wissen" einen Teil im Gehirn und genau das tritt dann ein, wenn man am Ende zugesteht – “ja, ein bischen Wahrheit wird ja mal drin sein…“.

Dass weder Wissen noch Erkenntis, noch Wahrheit noch irgendwas so funktioniert, vergisst das menschliche Gehirn leider aufgrund der sublimen Indoktrination bzw. der Suggestion durch die ständige Gebetsmühle. Am Ende ist die Verknüpfung entscheidend und nicht, ob diese durch reine Nennung oder echten Zusammenhang entstand. Und genau so arbeitet jede Verschwöungstheorie, jedes Geschwurbel und jede Art der verbreiteten Unwahrheiten, die, so will man mal unterstellen, doch in der Mehrheit am Ende echt geglaubt werden (wenn man von Agitatoren absieht).
Neben Ecos Werk empfehle ich hier die Beschäftigung mit echten Verschwörungen, die im Laufe der Jahre aufgedeckt wurden. In der Moderne wäre das z.B. die Iran-Contra-Affäre bzw. den Watergate-Skandal. Hier wird auch immanent deutlich, was diese von reinen Schwurbeleien unterscheidet – nämlich die enorme Komplexität.
Klassische Verschwörungstheorien machen die Welt einfacher. Es gibt ein Feindbild, landläufig “die“ genannt. “Die“ sind eine unbestimmte Menge an bösartigen Mächtigen, die die Welt regieren oder regieren wollen. “Die“ haben möglichst verabscheuungswürdige Eigenschaften und sind immer klar definiert per Hautfarbe, politischer Einstellung, Lebensform, sozialer Ausprägung etc.. Grundsätzlich lässt sich sagen es sind immer "die" anderen. Punkt. Und sie sind böse. Deren Pläne sind zudem auf dem Niveau jedes James Bond Bösewichts. Zum einen meist unsinnig und sich selbst enttarnend, dann mindestens überambitioniert (Weltherrschaft) oder komplett gaga (Universalherrschaft) und letztlich sind sie so geheim, dass jeder – wirklich jeder – ehemalige Stammtischkampftrinker oder politisch Unbedarfte, der Ghandi für einen Parfum und Mussolini für einem Designer hält, diese Pläne schon längst spitz gekriegt hat. Daran merkt man auch, wie klug die Verbreiter solcher Geschichten sind und bekommt Dunning Kruger mit dem Holzhammer übergezogen.

Hier verweise ich wieder auf die o.g. Verschwörungen und die dortigen Verkettungen, Hintermänner und Strukturen. Niemand – und ich meine wirklich niemand – kann diese in dieser lapidaren und erschreckenden Einfachheit wiedergeben, die es bei den landläufigen Verschwörungstheorien gibt. Die Verstrickungen sind derart kompliziert, dass ein “die“ ohnehin nicht auffindbar ist und die Verflechtungen in keinerlei Weise derart simpel sind, dass sie den Theorien entsprächen, die beim geneigten Publikum reissenden Absatz finden. Und das machen sie dann auch nicht. Weil sie weder schnell transportierbar, noch simplifizierend, noch das eigene Ego stützen, noch leicht verständlich sind. Und damit sind sie uninteressant. Aber immerhin erkennt man daraus Merkmale, wie man bei zukünftigen Bewertungen etwaiger "Entdeckungen" vorgehen könnte.

Die Zeit lässt sich nicht zurück drehen, die Entwicklungen nicht ändern. Man muss der heutigen Informationsflut (Information hier im Sinne der reinen Datenübermittlung) Herr werden. Man muss diese viel mehr werten als früher. Man ist selbst mehr gefragt, Dinge zu trennen, zu filtrieren, zu bewerten. Diese Selektion wurde einstmals von anderen auf der untersten Ebene übernommen, jetzt ist man selbst damit schon konfrontiert. Und bekommt auch die Auswirkung zu spüren, nämlich dass viele falsche Aussagen leider zu mutmaßlich richtigen führen können.
“Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen“, sprach einst der Direktor in Goethes Meisterwerk “Faust – Der Tragödie erster Teil“ – und so heisst es, dass auch aktives Entgegentreten notwendig ist. Das Internet, vor allem Social Media, darf nicht zur Spielwiese der Mitteilungswütigen, der Geltungsbedürftigen, der Verlierer werden, die sich selbst darstellen möchten, darf nicht Sammelplatz für beliebige Hetzer, Lästermäuler und politischen Agitatoren werden, denen jedes Mittel recht ist. Entgegentreten heisst es hier leider im Moment. Nicht still bleiben, sondern reagieren, nicht alles, was jemand aus dem Mund vor die Füsse fällt auch als Meinung akzeptieren, sondern klar machen, das es auch Grenzen gibt – und diese Grenzen sind der Hass, Mißgunst, Neid, Selbstmitleid und die eigene Lethargie.